M. Sökefeld (Hrsg.): Aleviten in Deutschland

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Titel
Aleviten in Deutschland. Identitätsprozesse einer Religionsgemeinschaft in der Diaspora


Herausgeber
Sökefeld, Martin
Erschienen
Bielefeld 2008: Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis
Anzahl Seiten
246 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Lukas Kieser

Noch vor gut zwanzig Jahren waren die Aleviten eine in Europa fast gänzlich unbekannte religiöse Gruppe in, und von Einwanderern aus, der Türkei. Seither sind sie in Deutschland, Frankreich und der Schweiz zu einem aktuellen Thema religiöser Integration, universitärer Forschung wie auch der Türkeiberichte der EU geworden.

Diese neue Thematisierung geht und ging einher mit der, auch Coming-Out genannten, Sichtbarwerdung einer über Jahrhunderte weitgehend verborgenen und verachteten Religionsgemeinschaft, die sich im Rahmen ihrer Sichtbarwerdung seit den 1980er Jahren in einem urbanen und Diaspora-Umfeld zugleich neu konstitutierte. Daher wird auch von «alevitischer Renaissance» gesprochen. Die Aleviten umfassen gut ein Viertel der Bevölkerung der Türkei, und zwar sowohl Türken als auch Kurden. In der Bevölkerungstatistik tauchen sie nicht auf, sondern werden als Muslime aufgeführt. In der Republik Türkei ist dieser statistische Umgang bedingt durch die Ideologie eines nationalistischen Unitarismus: Einheit von Staat, Türkentum und – implizit – Islam.

Die rezente wissenschaftliche Beschäftigung mit den Aleviten teilt sich im Wesentlichen auf in zeitgeschichtliche und religionsgeschichtliche sowie Diaspora-Forschung. Letztere steht im Zentrum des vorliegenden Bandes, den Martin Sökefeld, Professor für Ethnologie in München, vormalig Bern, herausgegeben hat. Seine Einleitung situiert die alevitische Renaissance in den globalen Wechsel von linker Klassen- zu (post-linker) Identitätspolitik und interpretiert relevante Beobachtungen in Deutschland seit Ende der 1980er Jahre im Fokus «transnationaler Anerkennungspolitik». Insgesamt entwirft er das Bild von Aleviten in Deutschland, deren Führerschaft erfolgreich soziale, religiöse und schulische Spielräume, inkl. solche bei der EU in Brüssel, und eigene Kanäle in die Türkei nutzt, um sich – nach Jahrhunderten der Abgeschiedenheit – sowohl in der Türkei als auch der Diaspora neu und vorteilhafter einzubringen. Dabei optiert sie nach dem 11.9.2001 mehrheitlich dafür, sich als eine Gemeinschaft ausserhalb des Islams zu definieren.

In einem weiteren Beitrag geht Sökefeld dieser heiss umstrittenen Frage nach, die die meisten Aleviten in der Republik Türkei, oder die noch dort sozialisiert wurden, trotz Diskriminierungserfahrungen befremdet. Auch wenn Moscheen und die Scharia abgelehnt werden, sind in der Tat die Anbetung Alis, des Schwiegersohnes von Muhammed, und die Trauer über die Passion bei Kerbela, mithin Elemente der islamischen Gründungsgeschichte, Hauptthemen alevitischer Spiritualität. Sökefeld verbindet daher die deutsch-alevitische Positionierung ausserhalb «des Islams», dessen Bild durch den grossmehrheitlichen Sunnismus und das iranische Schiitentum geprägt ist, mit pragmatischen Erfordernissen der Anerkennungspolitik. Mit dem Niedergang des Multikulti-Paradigmas sei Anerkennung in Deutschland am aussichtsreichsten als eigenständige religiöse Gruppe zu erlangen. Kira Kosnick weist in ihrem Beitrag über Strategien der Selbstdarstellung in alevitischen Programmen des Offenen Kanals in Berlin auf die Tendenz hin, sich als tolerante und «staatsnahe» bzw. verfassungstreue Minderheit zu positionieren.

Die Sichtweise, Aleviten ausserhalb «des Islams» zu verorten, ist alt und unterschiedlicher Provenienz. Nachzuforschen wäre, inwiefern für die heutige Debatte die Herkunftsregion der Akteure einen massgeblichen Faktor bildet. Der Beitrag von David Shankland und Atila Cetin über «Aleviten in Deutschland» – trotz Überschneidungen am besten mit der Einleitung zusammen zu lesen –, legt nahe, die Bereitschaft, «alevilik als eine eigenständige Religion zu betrachten», mit der Kategorie der Bektaschiye-unabhängigen, vorwiegend kurdisch- oder zazaki-sprachigen «Ostaleviten» und der Erfahrung des genozidären Feldzugs gegen deren Zentrum, die Region Dersim, 1937/38 zu verbinden, wo Ablehnung gegen republikanischen Unitarismus tief verwurzelt war. Etwas über die Dersimvereine in der deutschen alevitischen Landschaft zu erfahren, wäre wünschbar.

In Beatrice Hendrichs Untersuchung der Erzählungen alevitischer Geschichte von Aleviten in Deutschland taucht mehrfach der Brandanschlag eines sunnitischen Mobs gegen alevitische Künstler in Sivas von 1993, nicht jedoch Dersim 1937/38 auf. Gleichwohl bilanziert Hendrich, dass ihre Interviewpartner in der ganz unterschiedlichen Erfahrungswelt von Deutschland die fundamentale, jahrhundertealte Abgrenzung gegen die Sunniten relativierten und, noch innovativer, sich selbst nicht mehr primär als Opfer darstellten. Der alevitische Narrativ zeichnet sich dadurch aus, dass er nicht einer Meistererzählung folgt und immer biografisch verwoben wird. Vielleicht muss dieses Fazit mit Hülya Taşçıs Befund zusammen gelesen werden, dass, gepägt von religiösen Auflösungstendenzen, die zweite Generation Alevitinnen und Aleviten in Deutschland kaum einen gemeinsamen religiösen Nenner hätten.

Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Halil Cans langer Beitrag über einen alevitischen Jugendlichen auf der Suche nach Identität und Anerkennung. Der Weg führte ihn erst zu einem ostentativen Christentum, was ihn jedoch nicht davor bewahrte, in der Schule und selbst in einem evangelikalen Jugendlager als «Kanake» gehänselt zu werden. Vom Buben mit dem Kreuz um den Hals wurde er zu einem Träger Zülfikars, des Schwertes Alis, der sich als kurdisch-arabischer Alevite «exotisierte» und sein identitäres Wissen von Wikipedia bezog. Seine Familie stand seit zwei Generationen jeglicher Religion ferne.

Hervorzuheben ist schliesslich Robert Langers ausführlicher und sorgfältiger Beitrag über alevitische Rituale in Deutschland und der Türkei – die bisher beste Darstellung alevitischen Rituallebens im Wandel der vergangenen Jahrzehnte.

Soweit meine selektiven Eindrücke von einem Band, der sich ausgezeichnet eignet, um sich über die Situation der Aleviten in Deutschland ins Bild zu setzen. Die Situation trifft in Vielem, aber nicht in Allem auch auf die Schweiz zu, wo die Aleviten Teil einer absolut und proportional viel kleineren Diaspora aus der Türkei sind, die neben anderen, zum Teil grösseren, Diasporai steht. Ihre meisten Mitglieder, darunter überproportional viele Kurden und Aleviten, sind, anders als in Deutschland, erst nach dem Militärputsch von 1980 immigriert.

Zitierweise:
Lukas Kieser: Rezension zu: Martin Sökefeld (Hg,), Aleviten in Deutschland. Identitätsprozesse einer Religionsgemeinschaft in der Diaspora, Bielefeld, Transcript, 2008. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 104, 2010, S. 534-536